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Supernova: deformierte Conclusio

17. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Und weil jedes Konglomerat brüchig zu sein hat: dem Ende sein Motto # 1 (auch: Weil niemand erblasst oder Erblast sein will): it’s better to burn out than to fade away. (Neil Young, Hey Hey, My My, Out Of The Blue, Into The Black bzw. Kurt Cobain, sucide note.) Und weil außerdem alles noch einmal zum Thema gemacht werden kann und muss: Deformation wird sichtbar erst durch das Näherrücken. Die Nahaufnahme ist nötig, der Zoom auf das Detail des Details, damit die voyeuristische Distanz durch den Sprung ins Obszöne überwunden werden kann. (DAS OBSZÖNE: Sichtbarer als das Sichtbare, das ist das Obszöne. Die Obszönität ist die absolute Nähe des erblickten Gegenstandes. Es gibt nichts Obszöneres als die Überdosis des Selben, als die absolute Evidenz des Selben in seiner Verdoppelung. – Jean Baudrillard, Die Szene und das Obszöne.) Er hat, wenn er diese Sätze liest, immer eine Szene aus Thomas Manns Zauber-, d.h. Hausberg im Kopf (die er im Moment nicht finden kann): nirgendwo sonst, denkt er, wird die Obszönität fotografischer Nähe deutlicher als hier. Hans Castorp (glaubt er) in einem Ärztezimmer, an der Wand hängt die fotografische Nahaufnahme eines Stücks Haut. Bis zum Kotzen detailliert beschreibt Mann dieses Stück Haut: die Farben, die Poren, die Härchen, den Talg etc. Und beschreibt damit, denkt er, die Häutung, die jeder Fotografie zugrundeliegt: obszöne Nähe und nahe Obszönität. Und beschreibt damit zugleich die Ambivalenz, die jeder Häutung zugrundeliegt. (HÄUTUNG: So bezeichnet die Häutung einerseits, in Folter und Tötung, die extremste Einschreibung von Macht. Andererseits wird sie als Allegorie für einen Akt der Befreiung oder der (gewaltsamen) Modifikation verstanden. Sie markiert sowohl Verlust des Selbst als auch dessen Gewinn. – Claudia Benthien, Haut.) – Nachschrift: Womöglich, denkt er, liegt hier der Grund für sein Schuldgefühl: Er hat die Wanderung der Schrift durch die Häutung der Fotografie ersetzt – die Hand(schrift) verraten. Nie zuvor hat er mit Fotografien oder anderen Hilfsmitteln gearbeitet: Gerade die Unschärfe der Erinnerung ist ihm Kristallisationspunkt der Fiktionalisierung (gewesen), d.h. sie mag es werden.

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Motto # 2 (ad. Erinnerungswermut bzw. Bitterkeit des Vergessens): Glücklich die Macher pessimistischer Systeme! Ich bin kein Pessimist, ich bin traurig. (Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe.) Und weil außerdem alles noch einmal zum Thema gemacht werden kann und muss: Deformation ist eine Form der Devianz. Erst der Bruch mit der Symmetrie, erst der Defekt hebt die Norm auf und gibt einen Ausblick frei. Johannes Kepler z.B. hätte es ahnen können, weil er sich nicht nur mit Ellipsen, sondern auch mit Schneekristallen beschäftigt und erkannt hat, dass jeder Schneekristall sechsstrahlig ist und die sechs Strahlen wiederum völlig identisch sind. Dreht man einen Schneekristall um sechzig Grad, ändert sich sein Aussehen nicht. Soweit die Norm und ihr Gesetz. Die Wirklichkeit aber liegt jenseits der gesetzlichen Normbegierden, da kaum ein Schneekristall perfekt auskristallisiert ist. Schneekristalle sind invalid, und nur ihre Invalidität, das sogenannte Defizitäre, erlaubt jedem einzelnen Strahl Singularität. Übertragen, denkt er, bedeutet das: Vermenschlicht wird der Mensch durch die Kratzer und Blessuren. Erst das Wrack ist Mensch, und nur am (erloschenen?) Fixstern: Lumpenproletariat (als Konglomerat) wird evident, was verborgen bleiben soll: Leben als Rissquetschwunde. – Nachschrift: Er nimmt sich vor, Definitionen fortan mit Deformationen zu durchsetzen, denn die Deformation ist das, was die Definition davor bewahrt, definit zu werden – der abgeworfene Eidechsenschwanz und die Regeneration. Die Deformation hält die Definition offen für Bedeutung.

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Und weil außerdem alles noch einmal zum Thema gemacht werden kann und muss (ZIEL: die ganze Scheiße noch einmal an-, fertig- und niedererzählen – Werner Schwab, Faust :: Mein Brustkorb : Mein Helm.), muss alles immer zu und immer wieder wiederholt, d.h. gecovert werden, bis das Original von sovielen Bearbeitungsschichten überlagert, und durchlöchert und deformiert ist, dass es kein Original mehr gibt. (Strikt selbstidentische Fraktale, bis nur noch Paradoxien zurückbleiben: Menger-Schwamm, d.h. Körper ohne Volumen, aber mir unendlich großer Oberfläche. Devianz durch unendliche Redundanz.) Regel XIII: Du zerstörst den Ursprung, du deformierst das Original, du wirst Cover. (COVER: Die dringlichste Aufgabe des Interpreten ist es, das Vorgegebene so restlos dem eigenen Vortrag anzuverwandeln, daß es quasi in einer eigenen Interpretation aufgehoben und als Vorgegebenes vergessen gemacht wird. – Johannes Ullmaier, Destruktive Cover-Versionen.) Er sucht nach der Probe aufs Exempel und findet: Die Deformation, die Zerstörung, die ihm am nächsten liegt, ist die Selbstzerstörung, d.h.: Selbstcover & you hijack yourself. (Supplement Regel XIII.) – [Anführungszeichen, d.h. Wasserturm LSF auf:] Eine Frau trägt (und trägt schwer) mit sich ein Gesicht voll Gesicht. Sie tauscht ein – quid pro quo (recte: do ut des) – ihr schwarzes Haar gegen das blonde des Mannes, der ihr am nächsten sitzt. Und sie trägt nackt, d.h. Nacktheit als Kleidung, die sich in dem neben ihr auf der Bank stehenden, mit Stanniolpapier umwickelten Globus spiegelt, bis auf weiteres. Im Flachbildschirm zu ihren Füßen: Testbild Ich. [: Anführungszeichen, d.h. Wasserturm HBF geschlossen. Verfasser unbekannt.] Das gecoverte Ich, denkt er, im Mittelpunkt des Suchtdreiecks: In- und Umkreis, Klimax und Antiklimax, Start und Ziel. (ZIEL: ich werde es schaffen, Sie werden sehen, ich verspreche es Ihnen. – Werner Schwab, Antiklimax.) – Nachschrift als Vorschrift als Uroboros als retrospektives, verdoppeltes Motto # 3 (und weil er außerdem und immer noch falsch ist): FALSCH: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. (Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Asyl für Obdachlose): ASYL: Mitten in der Fremde. Sie ist unsere neue Heimat. Ihre Mitte ist überall. Akzeptiert man die Fremde als Heimat, ist man überall im Zentrum. Das ist die Rest-Utopie der Stadtnomaden. (Hans-Jürgen Heinrichs, Inmitten der Fremde): UTOPIE (à la und/oder wider Canetti): Tod? Das ist ein veralteter Begriff. Es gibt dort keinen Tod, wo es keine Individuen gibt. Bei uns stirbt niemand. (Satnisław Lem, Sterntagbücher.) Stern-blog closed, white dwarf.

 

Kopftausch setzt Enthauptung voraus …

14. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Wenn er ihn sieht – und er könnte ihn täglich sehen, da er jeden Tag da ist, auf seiner Bank –, hat er mitunter das Gefühl (soll er es sich eingestehen: die Angst?), in einen Spiegel zu blicken. Das Bild, das der Mann ihm zurückwirft, ist nicht sein wirkliches, nicht das seines Vollzugsindikativs, es ist ein konjunktivisches Spiegelbild, in das er blickt. Ein Zerrspiegel also, der sein Bild jedoch nicht räumlich – in gedehnte oder gestauchte Flächen – verzerrt, sondern zeitlich: Der Spiegel dehnt seinen Blick aus in die Zukunft der Möglichkeitsformen. Er hat das Gefühl (die Angst?), dass der Mann er selbst ist, nur dass das Leben des Mannes, das auch sein Leben ist, früher, um zehn, zwanzig Jahre früher gestartet worden ist. Der Mann ist kein anderer, er ist ihm nur um einiges voraus: Er geht einen Schritt und er folgt ihm. Die Spur, die er zu hinterlassen glaubt, ist vorgegeben, von ihm. – Im Vorbeigehen zieht er Vergleiche, weil er das Zwischenmenschliche immer in den Vergleich zwingt. Der Mann hat einen wuchernden Vollbart. Einen viel stärkeren Bartwuchs als er. (Stellt er erleichtert fest.) Der Mann hat halblange, lockige Haare. Seine sind länger, aber das hat nichts zu sagen. Der Mann trägt bevorzugt Kapuzenpullover (wie er), einen grünen Parker (wie er, im Winter) und in Kniehöhe abgeschnittene Armeehosen (wie er, in der Obdachlosigkeit des Wohnens). Dann sucht er nach Unterschieden (d.h. er sucht sich zu beruhigen). Der Mann trägt eine Brille: er nicht. Der Mann hat immer glänzende, frischgeputzte Schuhe an: er so gut wie nie. Der Mann hat nie einen Rucksack (oder auch nur ein Sackerl) dabei: Er fast ständig. Der Mann ist meistens allein – doch an dieser Stelle streut er Sand ins Vergleichsgetriebe.

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Der größte Unterschied (Unterschied groß U!) aber ist die Wollmütze, die der Mann aufhat, zu jeder Tages- und jeder Jahreszeit. Ihm selbst sind Wollmützen – Kopfbedeckungen überhaupt, aber vor allem Wollmützen – zum Symbol der Unterwerfung geworden, zum Symbol einer unentrinnbaren Unfreiheit. Dem Mann dagegen ist sie zum Refugium geworden. Die Mütze ist nicht rot (ergrautes Schwarz), aber er findet Schutz darunter. Sie schottet ihn ab, wenn es sein muss. Immer wieder zieht er sie tief ins Gesicht – bis unter die Nase zur Oberlippe –, um zu schlafen oder auch nur so zu tun, als würde er schlafen. Jedenfalls wagt niemand es, ihn anzusprechen: Unter der Haube ist er tabu. Vielleicht (wahrscheinlich) hilft die Mütze ihm auch, nicht den Kopf zu verlieren. Wie Maschendrahtzäune über Felsen gespannt werden, um Abbrüche zu vermeiden, ist das Wollnetz mit den großen und größer werdenden Löchern um seinen Kopf gespannt, um das Abbrechen der Gedanken, die immer auch ein Stück Kopf – Haut, Fleisch und Knochen – mit sich in den Abgrund reißen, zu verhindern. Die Gedanken sind schwer von Rotwein und Vergangenheit, und wenn sie losbrechen, fürchtet er immer um sein Leben. Irgendwann, mag er denken, wird er ausgedacht haben, nichts wird mehr da sein, als Leere und Leere. Dort, wo sein Kopf war, wird nichts sein als Sediment: Staub und Sand, zu dem sein Denken verfallen sein wird, sein Hoffen und Träumen. Und ohne die Mütze, mag er denken, wäre alles längst zu Ende gegangen.

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Am nötigsten hat er die Mütze in den Nächten. Sie ist ihm Sturzhelm, wenn er aufsteht und fortgeht und dabei auf die Schnauze fällt oder gegen ein Metallgestell läuft. Sie wärmt seinen Kopf, wenn es außen kälter und finsterer und schwärzer wird, und auch das, was innen vorgeht, ihn frösteln lässt. Und sie schützt ihn, wenn der Rotwein innen, im Schädel, das Kommando übernimmt. Wenn das Denken ganze Fleischbrocken aus dem Kopf reißen will, wenn es ihn, um ihn endlich kopflos zu machen, innerlich köpft. Und wenn das Denken sich schließlich nach außen wendet und nach jemanden sucht, den es stattdessen vernichten kann, d.h.: Ich reiß‘ dir den Schädel ab. Noch (noch?) genügt es ihm dann, die Mütze ins Gesicht zu ziehen: tiefer und tiefer, bis unter den Mund, damit auch seine Schreie verdeckt werden. – Auch das, denkt er, wird dann zu seiner Zukunft gehören: die Wut und der Hass, die Unmöglichkeit (der Unwille?), noch irgendetwas hinzunehmen und hinunterzuschlucken, sich hinwegzuducken, sich zu arrangieren. Auch das ist Zukunft: Rückkehr ins Faustrecht, Rückkehr in den Abgrund. Er geht zur Bank, auf der der Mann eben noch gesessen hat, setzt sich, spürt in seinem Rücken die noch warmen Holzbretter und schließt die Augen. Gedanken verstreichen und verstreichen. Dazwischen liegen Sekunden und Jahre, er könnte es nicht sagen. Als er die Augen wieder öffnet, fällt sein Blick auf seine Beine: Er trägt in Kniehöhe abgeschnittene Armeehosen, und seine frisch geputzten Schuhe glänzen im Laternenlicht. Er hat Kopfschmerzen. Er wagt es nicht, nach der Wollmütze zu greifen, die sie hervorrufen. Er hat Angst.

big brother is ignoring you, so join the murder

11. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Er weicht Beobachtungen aus, so gut er kann: Der beste Weg dazu ist es, selbst zu beobachten: Der Sehende bleibt ungesehen. – Das Auge der Webcam auf seinem Laptop z.B. hat er mit einem Stück Isolierband verklebt. Oder: Die Astlöcher der Fichtenbretterverschalung in seiner Wohnung hat er mit post-its überklebt, weil er ihre Augenblicklichkeit erkannt hat. (Zumindest hat die Figur in einem seiner Texte das gemacht …) Auch das Gehörtwerden vermeidet er: Er wäscht das Geschirr geräuschlos, seinen Raucherhusten schalldämpft er mit Taschentüchern und noch immer – wie seine ganze Kindheit hindurch – geht er gerne auf Zehenspitzen. (Umgekehrt genießt er die ohropaxgedämpfte Autarkie, in die er sich begibt, sobald es finster wird. – Ende der Hörigkeit …) Der olfaktorischen Beobachtung zu entgehen, ist am schwierigsten, der Zigarettenrauch verrät ihn. (Dennoch: Geruchloswerden, Jean-Baptiste Grenouille-Werden, Mörder-Werden.) – Seine Angst vor der Beobachtung, sagt er sich, hat nichts Paranoides. Er glaubt an keinen Gott, der alles sieht. An keinen großen Bruder, der noch mehr sieht. Er glaubt an keine unsichtbare Hand, die alles steuert. (Schon gar nicht: Zum Besten. Aller.) Für Weltverschwörungstheorien fehlen ihm Langeweile und Nerd-Skills. Und er glaubt, am allerwenigsten, daran, dass er es wert wäre, beobachtet zu werden. Trotzdem bleibt die Angst, und der Blick herrscht vor. (Noch die Schlafenden, wenn er nicht hinsieht, beobachten ihn, hören und riechen ihn.) Der Blick ist konkret: gerade auch dort, wo er zu schielen und auszuweichen beginnt. Der Blick ist abstrakt: gerade auch dort, wo ein reales Auge zielt. Und der Blick, müsste er sich eingestehen, ist sein eigener: Er fürchtet den Blick der anderen, weil er eben diesen Blick auf die anderen richtet, wieder und wieder.

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In seinem Kopf, müsste er sich eingestehen, sitzen die Augen des Voyeurs (wie in jedem Sammlerkopf). Schleichende Augen: Die Katze und ihr heißer Brei oder der Geier und die sterbende Kreatur. (Um manche Plätze dreht er Rund um Runde, oft über Stunden, bis er endlich zu Gesicht bekommt, was er zu Gesicht bekommen will.) Distanzhaltende Augen: noli me tangere und please mind the gap. (Der Voyeur, denkt er, braucht die Distanz. Wichtiger als die Szene im Zimmer sind die Tür, hinter der er sich versteckt halten kann, und das Schlüsselloch, das den Blick freigibt. – Das Schlüsselloch, der Hort, in dem er das beobachtende Augen-Ich aufheben kann.) Notierende Augen: speedpupillenspitzer Bleistift bzw. Tintenkiller. (AUGENGESCHWINDIGKEIT: Über allen Bemühungen schwebt erhaben der große Mythos eines reinen Blicks, der reine Sprache ist: der Mythos eines sprechenden Auges. – Michel Foucault, Die Geburt der Klinik.) Hegemoniale Augen: sondierend, selektierend. (Noch ehe er sieht – siehe: all the world’s a cage –, ist alles vom internalisierten Kategoriengefängnis gerastert, noch ehe er sieht, ist alles hierarchisiert und subsummiert und klassifiziert. Linné-Begierden: Der Voyeur sieht in den Kategorien seiner Geilheit.) Technisch armierte Augen: damit nichts aus dem Gesichtsfeld seiner Kurzsichtigkeit fällt, damit nichts der fotografischen Häutung entgeht. (DAS OPTISCH-UNBEWUSSTE: Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt ihn ihm. – Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie.) In seinem Kopf, müsste er sich eingestehen, sitzen die Augen des Voyeurs, des großen Bruders und Totschlägers Kain.

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Seine Sympathien haben, so weit er sich erinnern kann, Kain gegolten: dem älteren (und er denkt: größeren) Bruder, dem von Gott Übergangenen und Ignorierten, dem Verstoßenen und ruhelos Wandernden, dem gezeichneten Mörder. (ZEICHEN: Come join the murder / Come fly with black / We’ll give you freedom / From the human trap. – Kurt Sutter, Come join the murder.) Die Geschichte Kains, denkt er, ist die Geschichte der Schrift: ihrer Tödlichkeit und ihrer unabschließbaren Wanderung. Eine Geschichte der Inskription. und ihrer Auslöschung. Die Namen zweier Autoren sind ihm Etappen in dieser Geschichte. Name#1: Leopold von Sacher-Masoch. Er schreibt das Vermächtniß Kains und schickt dazu die Wanderer aus: die Nomaden und Flaneure. Ihr Fluch ist die alttestamentarische Ruhelosigkeit, ihr Fluch ist das Leben, weil sie selbst nur Notgeborene sind. (NOTGEBURT: Besser freilich ist nie geboren zu werden, und wenn man schon geboren wurde, den Traum ruhig, mit lächelnder Verachtung seiner schimmernden, lügnerischen Bilder auszuträumen, um für immer im Schooße der Natur unterzutauchen. – Leopold von Sacher-Masoch, Der Wanderer.) Sacher-Masoch setzt den modernen Menschen: In die eben erst erfundene Schwarzweißfotografie zeichnet er – rot – das Kainsmal. Name#2: Rainald Goetz. Er sitzt am Pult. Er trägt Anzug und Krawatte. Er trägt das Zeichen. Auslöschen kann er das Zeichen nur, indem er ein noch tieferes Zeichen einträgt. Mit dem Rasierklingenschnitt. Mit der überquellenden Wunde. Mit dem das Schwarzweiß des Manuskript durchtränkenden Blut. Weil alles darauf zurück- und hinausläuft. Weil alles, d.h. alle Flüssigkeiten (inkl. Blut) den Weg des geringsten Widerstandes nehmen. Weil alles, alles Thema ist. (ALLES: wegzerstechen alle Gefühle und dann im Endhirn die Erinnerungen totstechen, bis auch die letzte ScheißAtmung sistiert. – Rainald Goetz, Irre.) Und weil: Nur wenn er die Blicke vorsätzlich auf sich zieht, nur wenn er sich zur Schau und ausstellt, kann er der Beobachtung entgehen: Er, als Gesehener, blendet.

 

Engführung (Für F‘)

7. 10. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Sie ist in der Lage, sich frei zu bewegen, von A nach B oder C, von E nach D, aber auch von G nach G. (Frei, auch deshalb, weil sie nicht an Freiheit glauben will. Nicht einmal mehr an die Befreiung und ihre Permanenz.) Sie zieht einen Fahrradanhänger hinter sich her, einen Fahrradanhänger für Kleinkinder. (Obwohl sie nie Kinder gehabt hat, keine kleinen und keine großgewordenen.) Im Anhänger befindet sich das Notwendigste: ein Schlafsack, Semmeln, die für den Verkauf zu trocken geworden sind, ein Album mit Fotografien, eine Porzellanpuppe, dessen Gesicht von einem dichten Netz aus Craquelés überzogen ist. Rote Kartons mit den drei Fläschchen. (Ihre Anzahl divergiert, ist abhängig von den finanziellen Möglichkeiten.) Sie wandert von Telefonzelle zu Telefonzelle. – Nachschrift als kategorischer Imperativ: Lies nicht mehr – schau! / Schau nicht mehr – geh! (Paul Celan, Engführung.)

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Worin, fragt er sich, mag der Unterschied zwischen Nische (= Hort) und Gefängnis liegen? Für wen wird es eng? Ist es allein eine Frage von Quadratmetern? Liegt es an der Kluft, die sich zwischen Selbstbestimmung und Fremdzuweisung auftut? Daran, dass sie sich nicht selbst einfrieden, sondern gesetzt werden, auf den einen Punkt, der den Lebenssatz abschließt? Daran, dass die Züge, scheint es, immer nur für die anderen abfahren, während sie selbst auf den Bänken verharren müssen? Im Binnenland der Hoffnungslosigkeit? Liegt es an der Zeit? An ihrem Stillstand, ihrem Vergehen? Oder liegt es im Zusammenspiel von Raum und Zeit: in der Division der Strecke durch die Zeit, deren Quotient eine sogenannte Geschwindigkeit sein soll? Bewegung, denkt er, egal mit welcher Geschwindigkeit, die alles und jeden, wie man sagt, erfasst haben soll: Beschleunigung und Dynamik als gegenwärtiges All-Phänomen, Aufbruch und Mobilisierung als Fanal der Zeit. Aber jeder, denkt er, ist niemand, und alles ist nichts – ohne den Kehrreim der anderen, parallelisierte Seite. (PARALLELE: so als würde die flexibilität der einen die immobilität der anderen zudecken, als wäre da eine parallelgesellschaft im gang, die in anderen zeit- und geschwindigkeitsverhältnissen lebt und aus der öffentlichkeit mehr und mehr verschwindet. ja, die segregation, entkoppelung und entmobiliserung ganzer schichten ist im gang. – kathrin röggla, disaster awareness fair.) Für die Langsamen, denkt er, für diejenigen, denen nichts mehr davonläuft und die ihrerseits nicht länger davonlaufen können (oder wollen), wird es eng. Für die Ziellosen, denen das Hierundjetzt zur wegschmelzenden Eisscholle wird, wird es eng. Für die verarmten Gespenster, die bizarren Schatten eines kalten, einseitigen Wirtschaftswachstums, wird es eng. Und wenn es keine Fragen mehr zu stellen geben wird, dann wird es auch für ihn eng werden. Nicht?

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Sie wandert von Telefonzelle zu Telefonzelle. Hält vor jeder, betritt sie, trinkt ein Fläschchen oder auch ein ganzes Dreiermagazin. (Es divergiert, ist abhängig von den finanziellen Möglichkeiten.) Die Telefonzellen, in denen sie unterschlüpfen kann, werden von Jahr zu Jahr weniger, die Strecken, die sie zwischen ihnen zurücklegen muss, länger. Dafür sind die Telefonhörer rot geworden, wie die Sterne, als wäre jeder Anruf ein Notruf. (Vielleicht ist er es auch: für sie in jedem Fall.) Sie trinkt langsam, zögert die Zeit hinaus: Je länger sie bleibt, umso größer die Möglichkeit, dass ein Anruf eingeht. (An sie.) Sie kennt das aus amerikanischen Filmen, die sie früher einmal gesehen hat, weiß aber freilich nicht, ob öffentliche Telefone nur in amerikanischen Filmen oder auch in der österreichischen Wirklichkeit läuten. Sie weiß es nicht und ist dennoch überzeugt davon, dass einmal ein Telefon läuten und alles zum Guten hin ändern wird. Bislang war es nicht der Fall, aber bislang war vieles nicht der Fall. Außerdem ist da, in den Telefonzellen, diese herrliche Enge, die sie umgibt und sie stützt. Glaswände in jede Richtung, an denen sie sich anlehnen und durch die sie hindurchsehen kann. In Telefonzellen kann man nicht umfallen. Selbst dann nicht, wenn das Läuten auf sich warten lässt, und es langsam eng wird, für sie. – Nachschrift: die Nacht / braucht keine Sterne, nirgends / fragt es nach dir. (Paul Celan, Engführung.)

Nachbild: Der von Ihnen gewünschte …

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