Autoren Archiv

6. – 14. Oktober, Graz.

22. 10. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

Als die postnukleare Truppe in Graz ankam, war es als ob ein tragbares Mini-Buenos-Aires – zusammengesetzt aus 19 Personen, darunter Babies, Kinder, Rocker und andere – auf österreichischem Boden gelandet wäre. Alle miteinander waren eine Armee in Zeitlupe. Sie hatten 24 Stunden Flug hinter sich und betrachteten die Stadt mit Astronautengesichtern. Ich sah sie die Straße überqueren (ich war schon zwei Tage vorher angekommen) mit einem Gefühl von Glückseligkeit und Angst in dem Bewusstsein, dass ich für eine so verrückte und fragile Gruppe verantwortlich war.

Die ersten drei Tage der Inszenierung waren wie ein Elektroshock für meinen Kopf. Ich hatte ein Zimmer neben dem des Babies, aber das Baby bekam Fieber, weshalb es die ersten drei Nächte lang weinte. Ich hörte das Babyweinen in meinem Bett, während ich mir schreckliche Dinge ausmalte (das Baby wird sterben) und mein Herz gegen die Brust hämmerte wie ein Pferd. Während der ersten Nacht mit Herzjagen probierte ich alle möglichen Einschlafmethoden aus: mir vorstellen zu schwimmen, mir die Ohren zustopfen, die Matratze über den Gang des Hotels schleifen, um in einem anderen Zimmer zu schlafen, die komplette Sammlung der Faulkner’schen Erzählungen lesen, aber nichts half. Also entschied ich mich für die radikalste Option und klopfte um vier Uhr morgens an die Tür von Ulises ( Musiker haben immer Drogen dabei), um ihn um Schlaftabletten zu bitten.

Auf diese Nächte reinsten nächtlichen Terrors folgten Tage harter Arbeit. Es war das erste Mal, dass ich mit der Truppe auf Reisen war, wir hatten keine Erfahrung und mussten das Stück für einen neuen Raum in sehr kurzer Zeit umformulieren. Den Schauspielern mussten schnurlose Mikrofone verpasst werden, die Untertitelung musste korrigiert, die Position der Zuschauer verändert werden. Es gab Momente, in denen ich dachte, der Berg vom Dom würde uns verschlingen.

Am Donnerstag bei der Premiere war ich noch etwas taumelig von den Schlaftabletten, aber sehr glücklich und im Laufe der folgenden Aufführungen wurden wir immer gelöster. Bei der ersten Aufführung hatte auch das Baby Angst und versteckte sich zwischen den Beinen seiner Mutter, aber in der letzten lief es von einem Ende der Bühne zum anderen, den Motorradhelm tragend wie eine Heldin der Zukunft.

Am Sonntag als ich mich von der Truppe verabschiedete, blieb ich gelähmt wie ein melancholischer Roboter zurück: nach sechs Monaten, trennte sich meine tragbare Welt von mir und kehrte zurück in die andere Hemissphäre, mein Tagebuch wurde wieder zu einem Geheimnis auf dem Nachttischchen, das nur für meine Augen bestimmt war.

 

Buenos Aires 4., 5. und 6. Oktober

18. 10. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

4. Oktober
Ich sitze mit meinem Köfferchen in einem Sessel und warte auf das Taxi, das mich zum Flughafen bringen soll um nach Europa zu fliegen. Das Telefon klingelt und ein Mann sagt mir, dass mein Flug auf morgen verlegt wurde, weil der Flughafen Ezeiza bestreikt wird. Aus einem Paket, das aus den USA kam, sind tausende von Dollars verschwunden, einige Flughafenangestellte wurden festgenommen und die restlichen Angestellten haben einen Streik organisiert.
Mein Land produziert wieder mal Postkarten mit Mafia- und Science-Fiction-Szenen. Ich schließe die Augen und denke der Streik wird nicht enden und ich werde für immer in dieser Hemissphäre gefangen bleiben.

5. Oktober.
Ich stehe um sieben Uhr morgens auf und es regnet wie beim Weltuntergang. Der Himmel ist grau und die Tropfen sind Messer gegen den Asphalt.  Ich versuche ein Taxi zu bekommen, um zum Flughafen zu fahren, aber niemand antwortet. Nachdem ich eine Stunde lang vergeblich versucht habe, jemanden zu erreichen, rufe ich meine Mutter an. Meine Mutter gibt mir das Telefon eines Herrn, der einen für 75 Peso in einem weißen Auto hinfährt.  Der Herr mit dem weißen Auto ähnelt einem Formel-Eins-Fahrer. Als wir in Ezeiza ankommen, ist mein Herz eine Zeitbombe. Das Flugzeug fliegt in 45 Minuten ab, und in den langen Schlangen bei der Passkontrolle zanken sich beleibte Herren und schmuckbehängte Damen, Polizisten und Ausländer, aufmüpfige Kinder und zornige Mütter. Während ich Schlange stehe, denke ich, ich werde dem Flugzeug noch auf der Piste hinterherrennen müssen.  
Schließlich verspätet sich der Abflug und ich schaffe es noch, vom Boden abzuheben.

6. Oktober.
Ich sitze im Flugzeug und meine Nachbarin schläft wie ein betäubter Hirsch. Eine junge Frau, blond, mit deutschem Einschlag, die mit offenem Mund und baumelndem Kopf träumt.
Als sie die Augen aufmacht, erzählt sie mir in einem Spanisch mit bolivianischem Akzent, dass sie Deutsche ist, in La Paz gelebt hat und Sofia heißt. Sofia studiert Politikwissenschaft und ihr Beruf ist Ausländer zu heiraten, um ihnen die europäische Staatsbürgerschaft zu verschaffen.  Mit zwanzig verliebte sie sich in einen jungen Mann aus Kamerun, der Asylbewerber war. Drei Jahre lang betrieb sie den notwendigen Papierkrieg um ihn heiraten zu können, und als sie schließlich heirateten und er zum Europäer wurde, verließ sie ihn. Jetzt war sie in einen Bolivianer verliebt, mit dem sie auch vorhatte zu heiraten, um ihn zum Europäer zu machen, aber noch musste sie ein bisschen warten, damit ihrer alten Liebe nicht die neue Staatsbürgerschaft aberkannt wurde.
Kann man denn ein Heer von Männern und Frauen aufstellen, die Ausländer heiraten um sie vor der Armut oder der politischen Verfolgung zu retten?

Portable World

9. 10. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

Buenos Aires. Sonntag, 30. September.

 

¨vorübergehend, flüchtig, vergänglich¨ sagt ein alter Mann zu seiner Frau, die ihn mit Astronautenaugen anschaut. Das alte Ehepaar sitzt am Zwillingstisch nebenan, und die beiden versuchen ein Kreuzworträtsel zu lösen während sie in der Sonne Kaffee trinken. Eine ganze Weile wiederholen sie die Definitionen laut, dann schauen sie ins Leere und zählen die Buchstaben. Nichts. Es fällt ihnen nichts ein. Also gehen sie zu einem anderen Wort über.

Auch ich schreibe Wörter in mein Heft und frühstücke in der Sonne unter alten Leuten, die Kreuzworträtsel lösen, Müttern mit ihren Babies mit Hut, verschwitzten Sportlern, blonden Frauen mit dunklen Brillen und Zwerghunden, Männern mit Schlafwandleraugen. Und ich denke, dass Sonntag morgens alle nackt sind und man ganz klar sehen kann, wer allein schläft, wer verliebt ist, wer im Spielkasino verloren hat, wer nicht schlafen kann.

Und ich betrachte mich von außen, an meinem Tisch sitzend mit meinem Heft und den hinten zusammengebundenen Haaren und merke, dass ich zur Gruppe derer gehöre, die am Sonntag allein aufstehen. Und ich denke, wenn ich meinen Freund, ein Baby oder einen Hund dabei hätte, wäre es auch nicht anders, denn am Ende ist man beim Schreiben immer allein. Und dann frage ich mich, ob ich wohl schreibe, um etwas mit meiner Einsamkeit anzufangen oder ob ich viel allein bin, weil ich gerne schreibe.

Und während die Sonne durch mein Haar dringt und von meinen Knien nach oben steigt, denke ich, dass dieser Moment ¨vorübergehend, flüchtig, vergänglich¨ ist, denn in ein paar Tagen muss ich meine Reise nach Österreich antreten mit einem seltsamen Heer, das sich zusammensetzt aus einem Baby, einem zwölfjährigen Mädchen, Schauspielern, Musikern und Technikern, und dass ich das Regiment führe und Angst habe. Ob man die Trilogie in der anderen Hemissphäre wohl fassungslos mit aufgerissenen Augen sehen wird? Kann ich wirklich alle mitnehmen und sie für Europa übersetzen, als ob sie meine tragbare Welt wären?

 

FREMDKÖRPER

28. 9. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

Buenos Aires. 12.- 22. September.

12. September. Ich gehe mit meiner Mutter in die Hamletvorstellung. Seit sie das Gedächtnis verloren hat, trägt meine Mutter unter der Bluse einen wie einen Walkman aussehenden Apparat, der mit dem Arm verbunden ist und ihren Blutdruck misst. Die ganze Vorstellung über höre ich mechanische Geräusche aus ihren Kleidern kommen, als ob meine Mutter ein Roboter wäre. Die Geräusche, die der Körper meiner Mutter von sich gibt, erinnern mich daran, dass sie jeden Moment sterben kann. Als ich ein kleines Mädchen war, war der Körper meiner Mutter wie ein Polster, das alles beruhigte. Wenn ich nicht schlafen konnte, wenn ich nicht aufhören konnte zu weinen, wenn ich auf die Welt wütend war, konnte ich mich immer gegen ihre Rippen drücken und wieder aufatmen. Jetzt ist meine Mutter eine nicht mehr funktionierende Maschine.

16. September. S. verschluckt sich beim Salat essen und wir enden im Krankenhaus. Im Krankenhaus wird ihm ein Schlauch in die Nase gesteckt, an dessen Ende eine Kamara sitzt. Auf dem Bildschirm sehen wir die Kehle von S. als ob sie ein glitschiger rosa Tunnel wäre. S. sagt ¨jetzt hast du auch mein Inneres gesehen, nun kennst du alles von mir¨. Der Arzt sagt, dass er in Narkose versetzt werden muss, um zu versuchen den “Fremdkörper” zu entfernen. Ich frage mich, ob der Fremdkörper, den er verschluckt hat, ein böser Geist, eine Tomate oder ein Stück von mir ist. Sie setzen ihm eine Haube auf, ziehen ihm ein Mädchennachthemd über und fahren ihn in einer Bahre weg. Während ich im Wartesaal sitze werden im Fernsehen Bilder aus dem Irak gezeigt und ich schlafe ein. Als ich aufwache, sagt mir der Arzt, dass er ein Stück Fleisch im Hals stecken hatte, aber dass es ihm jetzt wieder gut ginge. S. macht die Augen auf und lächelt als ob ich ein Lebensretter wäre, der ihn davor bewahrt hat, im Meer zu ertrinken.

21. und 22. September. Mein Körper ist ein Übungsgelände. Ich lasse mir meinen Kopf mit allen erdenklichen Betäubungsmitteln kontaminieren. Den Tag verbringe ich wie eine Schlafwandlerin, in Zeitlupe schreibend, und nachts tobe ich mich aus unter hunderten tanzender Personen. Ich bin der Soldat meines privaten Krieges. Ich bin auf der Tanzfläche mit offenen Haaren und einem unsichtbaren Gewehr. Die Musik klingt in mir und ich spüre, dass ich von Gespenstern umgeben bin. Der Boden, auf dem ich tanze, ist ein Minenfeld. Ein Schritt und ich bin glücklich, ein Schritt und ich kann sterben.