Autoren Archiv

Zweitens

29. 7. 2008 // // Kategorie Randnotizen 2008

Roger klingelte. Lumpi stürzte zur Tür. Höllengebrüll. Ich hielt den Hund zurück, sprach ihm gut zu. Der Hund schien sich schliesslich zu beruhigen, legte sich hin, legte seinen Kopf auf die Vorderpfoten, legte seine Ohren in Schalen, liess das Weiss in seinen Augen sehen, wedelte möglicherweise mit dem Schwanz, ich stand daneben, vielleicht einen Meter entfernt, und ich weiss noch, wie erleichtert ich in jener Sekunde war, in der ich Lumpi friedlich wähnte – und er in Wahrheit zum Sprung ansetzte und dann diese anderthalb Meter vom Fussboden zu Rogers Unterlippe hochsprang, einen ewigen Moment am Gesicht des Jungen hängen blieb, bevor ihn wahrscheinlich die Angst vor der eigenen Courage packte und er abliess. 

Die Lippe war übel zugerichtet, aber Roger lachte, wie manche Jungen das tun, denen das Selbstvertrauen fehlt, um vor fremden Menschen heulen zu können. Er wollte meiner Mutter, die inzwischen hinzugekommen war, nicht den Eindruck vermitteln, er könnte ihr zusätzlichen Ärger bereiten. 

Wohin dieser Roger auch kam, er war pausenlos damit beschäftigt, jeden Argwohn zu zerstreuen. Im Grunde war er ein braver Junge, aber die Umstände erlaubten keine Tugend. Ein Fliegenfänger, wie wir solche Burschen nannten, jeder Dreck blieb an ihm kleben, wie an den gelben Leimstreifen in der Küche. 

Er hatte niemanden, der ihm einen Teil hätte abnehmen können, die Mutter rauchte zuviel, obwohl das nichts zur Sache tat; die ältere Schwester war zu hässlich und zu unbeliebt, das Unglück mied sie, es gab an ihr nichts weiter zu verderben. Und so fiel der Ärger einer ganzen Familie auf diesen hübschen, blonden Jungen zurück – und man muss leider sagen, es war zu viel davon, allerdings kein schicksalshafter, persönlicher Ärger, bloss die übliche Jauche aus zu wenig Geld und zu viel Sozialamt,  ganze Fässer wurden über ihm ausgeleert, solange, bis ein Junge nicht mehr zu erkennen war.

Wir lebten in einer Scheissstadt, in der übelsten Stadt er westlichen Hemisphäre, ein kalter, namenloser Ort, dessen präzise Mechanik jeden Bewohner kleinschnitt. Dieses Kaff mahlte langsam, aber sehr, sehr klein, und das Mehl der Unglücklichen wurde untergepflügt und düngte die nächste verlorene Generation. Und unser Hund war eine Ausgeburt dieser Stadt. Er schnappte sich Rogers Unterlippe, er biss zwei hässliche Löcher in dieses zarte Fleisch, das die Mädchen so gerne küssten. Und das war es dann auch. Der Junge kriegte eine Tetanusimpfung in den Hintern, und der Hund kriegte ein Wurst ins Maul. Es war nämlich in Ordnung, dass er zugebissen hatte. Es war seine Natur. Hunde bissen nun einmal. Der Fehler lag bei denen, die sich erwischen liessen. Roger musste eine falsche Bewegung gemacht haben, und ohnehin war es besser, wenn dieser Lümmel unserer Wohnung künftig fernblieb. 

Drecksköter

15. 6. 2008 // // Kategorie Randnotizen 2008

Erstens
Über Tote nichts als Gutes – und ich würde gerne Gutes über unseren alten Hund berichten – alleine, mir fällt nichts ein. Wir nannten ihn Lumpi, und ein Lump war er auch. Seine Mutter ein Appenzeller Sennenhund, ein Kurzhaardackel sein Vater. Die komplizierten Grössenverhältnisse bei seiner Zeugung mögen einen gewissen Einfluss auf seine spätere Entwicklung gehabt haben, wesentlicher waren wohl die rassetypischen Eigenschaften der Elternteile. Jede für sich genommen, gereichen dem Menschen durchaus zum Vorteil. Sennenhunde sind treue und aufmerksame Wächter. Sie verbellen zuverlässig jeden Eindringling, bis der Meister ihn zu schweigen befiehlt; und jeder, der nicht zum Hof gehört ist ein Eindringling, und Meister kennt er zeitlebens einen Einzigen. Dackel hingegen verfolgen ihre Opfer bis in die tiefsten Gänge des Dachsbaus, und starrköpfig bis zur Selbstvernichtung lassen sie sich durch nichts von ihrem Ziel abbringen. In unserem Hund nun gingen diese beiden Merkmale eine höchst bedenkliche Verbindung ein. Obwohl äusserlich nichts an seine mütterliche Herkunft erinnerte, sondern in allem seinem Vater nachschlug – kurzes, braunes Fell, gerade Rute, bloss ein gutes Stück höher auf den Läufen als reinrassiger Dackel – war er ein mustergültiger Wächter. Sein Gebell war so furchteinflössend, dass jeder, der an unsere Tür klingelte, sich augenblicklich fragte, ob er nicht besser zu einem späteren Zeitpunkt wiederkommen könnte. Wer dem Hund noch nie begegnet war, sah vor seinem inneren Augen einen Cerberus toben und war erstaunt, wenn stattdessen ein Köter erschien, kaum ernstzunehmen, weil er einem kaum bis ans Knie reichte. Erst wenn meine Mutter oder mein Stiefvater ihn zu schweigen und den Gast willkommen geheisssen hatte, beruhigte sich der Hund und begann ein scheinbares Unterwerfungsritual, indem er mit dem Schwanz wedelte und auf seine persönliche Weise die Ohren anlegte, so dass sie nach vorne offene Schalen bildeten. Der Gast war beruhigt, weil er dies als Geste des Friedens erkannte, so, wie wir auch, allerdings nur bis zu jenem Tag, als mich mein Freund Roger, der Herr sei ihm gnädig, besuchen wollte.