Sammeln, Sucht: Alpenglühen

26. 8. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Sein Blick beim Gehen ist weiter auf den Boden gerichtet. Selten dass er ihn hebt, und auch dann nur, um sich kurz zu orientieren (und nicht vor ein Auto zu laufen.) Tunnelblick, denkt er, die vollständige Fokussierung auf ein Objekt. Der Blick des Suchenden (= Sammelnden) ist der Blick des Süchtigen: Allein der Stoff zählt, alles andere fällt aus den Wahrnehmungszusammenhängen. Schon immer, denkt er, war er von Sucht fasziniert, und er stellt sich Sucht als ein gleichseitiges Dreieck vor. Drei nominale Punkte (die drei roten Käppchen einer Schachtel) definieren es: Obsession – Isolation – Autodestruktion. Und definieren auch das Dreieck des Sammlers. Der Suchtsammler ist besessen von den Objekten seines Sammelns bzw. wird er selbst von den Objekten besessen. Der Suchtsammler vereinsamt in seinem Tun: Das Sammeln, nimmt er es ernst, isoliert ihn von allen anderen. (Jeder geht und sammelt und trinkt für sich allein.) Der Suchtsammler vernichtet sich im Sammeln: Der Sammlung wird alles untergeordnet, bis nichts zurückbleibt als die Sammlung selbst, keine Ressourcen, kein Raum, kein Ausweg. (Zielgerichteter Potlatch: Totale Verausgabung für das Eine.) Und er? Manchmal, wenn er im Gehen versucht, den Blick springen zu lassen – im Ping-Pong zwischen den Suchtobjekten und ihren Kontexten –, überkommen ihn Schwindel und Teufelskreislaufprobleme. Fast so als hätte er Gras geraucht.

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Wer nichts mehr hat, sammelt alles. (Hat er jemanden sagen hören.) Der Mann schiebt einen Einkaufswagen vor sich her, bis an den Rand hin angefüllt. An den Gittern hängen ausgebeulte Taschen und Plastiksäcke, am Unterbau des Einkaufwagens steht ein Bananenkarton. Vor den Mistkübeln bleibt er stehen, durchsucht sie, nimmt mit, was ihm brauchbar erscheint. Aus der Entfernung (und, wenn man sich dem Mann nähert, auch aus der Nähe) sieht der Einkaufswagen aus wie ein mobiler, langsam durch die Welt kriechender Müllberg. Hort ohne geografische Koordinaten: reine Bewegung, d.h. besinnungslose Hortung. In den Pausen, während der er sich auf Bänken niederlässt, trinkt er. Vormittags zögerlich, gegen Abend hin immer härter. Der Mann, denkt er, lebt im Spannungsfeld einer auf die Spitze getriebenen Ambivalenz. (AMBIVALENZ: Some dance to remember, some dance to forget. – Eagles, Hotel California.) Denn die Mittelpunkte des Sucht- vs. Sammler-Dreiecks sind antithetisch definiert: In- und umkreist das Sammeln die Erinnerung, in- und umkreist die Sucht das Vergessen. Wer nichts mehr, d.h. alles vergessen hat, sammelt alles. – Der Mann steht auf, schiebt seinen Einkaufswagen weiter, entsorgt im Vorbeigehen die Flasche im Mülleimer: Post, womöglich, für jemanden, der im Sammeln das Vergessen sucht.

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Wenn er versucht, sich den Begriff Vergessen als Landschaft vorzustellen, sieht er ausgedehnte, zu keinem Abschluss kommende Flächen vor sich. Ebenen, Steppen, Eis- und Sandwüsten. Ohne Bewuchs, ohne Verwerfungen. Oder ein Meer. Ein horizontloser Ozean ohne Ausblick auf Festland, nicht einmal in Form insularer Intarsien. – Erinnerung dagegen nimmt in seinem Kopf unweigerlich die Form eines Berges an. Keines Hausberges freilich: Der Hausberg ist die Inversion eines Berges, umgestülptes, hochaufragendes Vergessen. Hymnisch besungen – Land der Hausberge –, ist er der Vergessens-Hausberg Österreichs. (Ein Tafelberg aus Sandsteinschichten und – geologisch eher unmöglich, literarisch aber ok – umhüllt von einer Rosenquarzschicht. Der Form und dem Gehabe demnach dem bekannten Punschkrapferl nicht unähnlich. Cf. R. Menasse.) Kein Hausberg also, ein richtiger Berg: Zusammengesetzt aus Erinnerungsschichten, komprimiert durch tektonische Verschiebungen. Bewachsen bis zu einer Grenze, die nicht die Baumgrenze wäre, und überzogen von einem Labyrinth aus Wegen, an deren Kreuzungspunkten keine Wegweiser aus der Verwirrung führen. Ein richtiger Berg also, denn Gehen – auf Bergwegen und jedes Gehen überhaupt – ist Erinnerungsarbeit und Vergessensverweigerung. (D.h. Um- und Neuschrift: Jeder Gang, jeder einzelne Schritt überschreibt die vorgängige Erzählung.) Und der Berg, nicht zuletzt, denkt er, ist Müllberg, der sich in nichts von einem Berg aus Sammel(=Erinnerungs)objekten unterscheidet. Weil nur Müll sich beharrlich ins Gedächtnis ruft.

Nachbild:

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