Archiv der Kategorie 'Randnotizen 2007'

Donnerwetter

29. 10. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

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Beim Rumwühlen fand ich einen alten Text, den ich 1987 für eine Edition geschrieben habe, die bei Hundertmark, Galerie in Köln herauskam:

Frische Hemden.

Gegenstände heißen nicht Gegenstände, weil sie in der Gegend herumstehen. Vielmehr stellen sie sich gegen uns Menschen, weil wir sie so traktieren. Deshalb stellen sie sich tot, genauso, wie wir uns mit Absicht lebendig stellen.
Das Wort ‚Schnur’ macht wegen der Aussagekraft des darin enthaltenen Wortes ‚nur’ jeden mit ihr verbundenen Gegenstand schlicht.
Bei Aktentaschen ist Sprache nütz, wenn man nicht hineinsehen kann.
Bei Abstraktentaschen ist Sprache nütz, wenn man nicht versteht, was sie bedeuten sollen. Bei Kakteentaschen ist es wieder anders.
Das ‚Galerie-Kohlschmidt-Prinzip’ nutzt die Zwischenräume, welche und neben berühmten Künstlern und berühmten Kunstwerken bleiben, vermittelst Interpolation: wenn wir z. B. den ‚Denker’ von Rodin mit Dieter Rot addieren und die Summe durch 2 teilen, erhalten wir das Neuwerk ‚Der Scheißer’ von Rotin.
Auf die gleiche Weise gelangen wir zur Korrektur einer merkwürdigen Behauptung der Künstler Duchamps und Magritte, wenn wir sie zu ‚Duchitte’ hochgerechnet haben: „Ce n’est pas une fontaine: ?!“
Es wäre nicht schlecht, wenn auch die Dinge in Anführungsstrichen darstellbar wären. Manchmal jedenfalls.

Der Kahlauer muß, wenn er noch zulässig sein will, so beschaffen sein, daß sich einem zumindest die Schamhaare sträuben.
Auf die Frage meiner Mutter, wo der Junge das bloß herhabe, zeigte ich bloß auf ihre zur Stummeldose getrimmte NIVEA. Da sitzt der Defekt!
Alter polnischer Humor: Tauben nach Berlin tragen.

Wie machen wir eine beeindruckende Ausstellung? Wir hängen einen Schrank, weil seine Form auf Inhalt schließen läßt. Der in den Nacken zurückgelegte Kopf steigert das Beeindruckungsvermögen. Schnell vorweck-nehmen, wie man die Dinge aufzufassen habe.
Das Denkmal eines großen Künstlers wird ihn besser abwesend zeigen. Larve seiner Moden, dem Irdischen enthoben, stellen wir uns ihn in die Ferne gerückt, nur oberbekleidet und frierend vor.
Nochmal zur Aktentasche: Nicht die Aktentasche hat existiert, bevor sie erfunden wurde, sondern der Tatbestand, dem sie Ausdruck verleiht!
Als Hoffnung bleibt die nächste Ziehung der Zottolahlen.

6. – 14. Oktober, Graz.

22. 10. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

Als die postnukleare Truppe in Graz ankam, war es als ob ein tragbares Mini-Buenos-Aires – zusammengesetzt aus 19 Personen, darunter Babies, Kinder, Rocker und andere – auf österreichischem Boden gelandet wäre. Alle miteinander waren eine Armee in Zeitlupe. Sie hatten 24 Stunden Flug hinter sich und betrachteten die Stadt mit Astronautengesichtern. Ich sah sie die Straße überqueren (ich war schon zwei Tage vorher angekommen) mit einem Gefühl von Glückseligkeit und Angst in dem Bewusstsein, dass ich für eine so verrückte und fragile Gruppe verantwortlich war.

Die ersten drei Tage der Inszenierung waren wie ein Elektroshock für meinen Kopf. Ich hatte ein Zimmer neben dem des Babies, aber das Baby bekam Fieber, weshalb es die ersten drei Nächte lang weinte. Ich hörte das Babyweinen in meinem Bett, während ich mir schreckliche Dinge ausmalte (das Baby wird sterben) und mein Herz gegen die Brust hämmerte wie ein Pferd. Während der ersten Nacht mit Herzjagen probierte ich alle möglichen Einschlafmethoden aus: mir vorstellen zu schwimmen, mir die Ohren zustopfen, die Matratze über den Gang des Hotels schleifen, um in einem anderen Zimmer zu schlafen, die komplette Sammlung der Faulkner’schen Erzählungen lesen, aber nichts half. Also entschied ich mich für die radikalste Option und klopfte um vier Uhr morgens an die Tür von Ulises ( Musiker haben immer Drogen dabei), um ihn um Schlaftabletten zu bitten.

Auf diese Nächte reinsten nächtlichen Terrors folgten Tage harter Arbeit. Es war das erste Mal, dass ich mit der Truppe auf Reisen war, wir hatten keine Erfahrung und mussten das Stück für einen neuen Raum in sehr kurzer Zeit umformulieren. Den Schauspielern mussten schnurlose Mikrofone verpasst werden, die Untertitelung musste korrigiert, die Position der Zuschauer verändert werden. Es gab Momente, in denen ich dachte, der Berg vom Dom würde uns verschlingen.

Am Donnerstag bei der Premiere war ich noch etwas taumelig von den Schlaftabletten, aber sehr glücklich und im Laufe der folgenden Aufführungen wurden wir immer gelöster. Bei der ersten Aufführung hatte auch das Baby Angst und versteckte sich zwischen den Beinen seiner Mutter, aber in der letzten lief es von einem Ende der Bühne zum anderen, den Motorradhelm tragend wie eine Heldin der Zukunft.

Am Sonntag als ich mich von der Truppe verabschiedete, blieb ich gelähmt wie ein melancholischer Roboter zurück: nach sechs Monaten, trennte sich meine tragbare Welt von mir und kehrte zurück in die andere Hemissphäre, mein Tagebuch wurde wieder zu einem Geheimnis auf dem Nachttischchen, das nur für meine Augen bestimmt war.

 

Buenos Aires 4., 5. und 6. Oktober

18. 10. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

4. Oktober
Ich sitze mit meinem Köfferchen in einem Sessel und warte auf das Taxi, das mich zum Flughafen bringen soll um nach Europa zu fliegen. Das Telefon klingelt und ein Mann sagt mir, dass mein Flug auf morgen verlegt wurde, weil der Flughafen Ezeiza bestreikt wird. Aus einem Paket, das aus den USA kam, sind tausende von Dollars verschwunden, einige Flughafenangestellte wurden festgenommen und die restlichen Angestellten haben einen Streik organisiert.
Mein Land produziert wieder mal Postkarten mit Mafia- und Science-Fiction-Szenen. Ich schließe die Augen und denke der Streik wird nicht enden und ich werde für immer in dieser Hemissphäre gefangen bleiben.

5. Oktober.
Ich stehe um sieben Uhr morgens auf und es regnet wie beim Weltuntergang. Der Himmel ist grau und die Tropfen sind Messer gegen den Asphalt.  Ich versuche ein Taxi zu bekommen, um zum Flughafen zu fahren, aber niemand antwortet. Nachdem ich eine Stunde lang vergeblich versucht habe, jemanden zu erreichen, rufe ich meine Mutter an. Meine Mutter gibt mir das Telefon eines Herrn, der einen für 75 Peso in einem weißen Auto hinfährt.  Der Herr mit dem weißen Auto ähnelt einem Formel-Eins-Fahrer. Als wir in Ezeiza ankommen, ist mein Herz eine Zeitbombe. Das Flugzeug fliegt in 45 Minuten ab, und in den langen Schlangen bei der Passkontrolle zanken sich beleibte Herren und schmuckbehängte Damen, Polizisten und Ausländer, aufmüpfige Kinder und zornige Mütter. Während ich Schlange stehe, denke ich, ich werde dem Flugzeug noch auf der Piste hinterherrennen müssen.  
Schließlich verspätet sich der Abflug und ich schaffe es noch, vom Boden abzuheben.

6. Oktober.
Ich sitze im Flugzeug und meine Nachbarin schläft wie ein betäubter Hirsch. Eine junge Frau, blond, mit deutschem Einschlag, die mit offenem Mund und baumelndem Kopf träumt.
Als sie die Augen aufmacht, erzählt sie mir in einem Spanisch mit bolivianischem Akzent, dass sie Deutsche ist, in La Paz gelebt hat und Sofia heißt. Sofia studiert Politikwissenschaft und ihr Beruf ist Ausländer zu heiraten, um ihnen die europäische Staatsbürgerschaft zu verschaffen.  Mit zwanzig verliebte sie sich in einen jungen Mann aus Kamerun, der Asylbewerber war. Drei Jahre lang betrieb sie den notwendigen Papierkrieg um ihn heiraten zu können, und als sie schließlich heirateten und er zum Europäer wurde, verließ sie ihn. Jetzt war sie in einen Bolivianer verliebt, mit dem sie auch vorhatte zu heiraten, um ihn zum Europäer zu machen, aber noch musste sie ein bisschen warten, damit ihrer alten Liebe nicht die neue Staatsbürgerschaft aberkannt wurde.
Kann man denn ein Heer von Männern und Frauen aufstellen, die Ausländer heiraten um sie vor der Armut oder der politischen Verfolgung zu retten?

What do you think? (4)

15. 10. 2007 // // Kategorie Randnotizen 2007

ich: ja, hi, jetzt ist der herbst auch noch fertig.

ein junger mann mit kopfhörern (nimmt die kopfhörer ab): entschuldige?

ich: ich sagte, der herbst ist ja jetzt zu allem übel auch noch zu ende.

ein junger mann ohne kopfhörer: yea, es ist verfickt kalt.

ich: das auch, ja, aber der herbst!

ein junger mann ohne kopfhörer: ist das irgendson witz? willst du mich verarschen? was soll das mikro?

ich: du hast den herbst verpasst? mein gott!

ein junger mann ohne kopfhörer: was ist dein problem?

ich: schau, hier ist das programm. wir machen ein spiel. ich zeig dir ein paar attraktive veranstaltungen. achte nicht auf die zahlen, die sind bloß da, um dich zu verwirren. und du sagst mir, zu welcher du am liebsten gegangen wärest, wenn du zum beispiel nicht in minneapolis, sondern in graz gewesen wärest.

ein junger mann ohne kopfhörer: ich glaub, ich hab keine zeit für so was.

ich: doch doch. also: hier, das klingt interessant: moskau-graz, zuneigung und entfremdung. das ist doch unser thema. minneapolis-graz, verbunden mit schock, wenn man nach zum beispiel dreißig jahren scheißarchitektur plötzlich vor so was wie dem grazer kunsthaus steht.

ein junger mann ohne kopfhörer: ist graz in der schweiz?

ich: ja, aber das ist nicht der punkt. schau mal hier: liebe in zeiten der telenovelas. bist du verliebt, und wenn nicht, interessieren dich telenovelas, und wenn nicht, warum nicht?

ein junger mann ohne kopfhörer: ich war mal snowboarden in der schweiz.

ich: im herbst?

ein junger mann ohne kopfhörer (setzt die kopfhörer auf):nee, im winter.