Existenzcamouflage

28. 7. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Die Luft drückend. Schwüle, Feuchtigkeit. Der Schatten keine Zuflucht: Abwesenheit von Licht, nicht von Hitze. Der Mann trägt einen dicken, olivgrünen Bundesheerpullover, ein, zwei Nummern zu groß. Über die Schultern geworfen ein Parker, graugrün, Teil verjährter Rot-Kreuz-Uniform. Die an den Oberschenkeln speckig gegriffene Cordhose ist braun. Dunkles, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar, schweißig über den Ohren und im Nacken. Der Bart verwirrt. Er sitzt auf einer Parkbank. Braunschwarz getretener Lehmboden, zerbröselnde Rindenstücke. Baumstämme in seinem Hintergrund: braun, braunschwarz, schwarz. Eine Wand aus Dunkelheit: Schatten, der Schatten wirft. Das Grün der Blätter ist verdunkelt, abgehoben vom Hinter- und Untergrund nur wenn sie sich bewegen. (Im Wind, den es nicht gibt.) Auch den Mann, im schnellen Vorbeigehen, erkennt man kaum. Er ist verdunkelt, abgehoben vom Hinter- und Untergrund nur wenn er sich bewegt. Als wollte der Mann sich tarnen, denkt er, als wollte er über die Einsamkeit, in der er lebt und trinkt und weiterlebt und weitertrinkt, hinwegtäuschen. Nur im genauen Hinsehen – Stieren: gezieltes Suchen – wird er sichtbar. Gemacht von ihm: Details, die es womöglich gar nicht gibt, die nur entstehen, weil er sie sehen will. Er legt etwas frei, das nicht da ist. Und vielleicht ist überhaupt nichts da, keine Tarnung, kein Mann. Nur die rote Baseballmütze, die neben ihm auf der Bank liegt.

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Beim Wort Tarnung hat er zwei Bilder im Kopf. Bild eins: ein Armyshop. (Klaustrophobische Enge. Die Kundschaft sieht aus wie … Mordundtotschlag.) Bild zwei: Tarnkappe, märchenhaft. Man setzt sie auf und verschwindet, Unsichtbarkeit vor allen Hintergründen. Bei den Fläschchen, denkt er, ist es umgekehrt: Sie müssen die Etikettenmäntel ablegen und die Kappen absetzen. Sein Blickverhalten im Gehen ist auf die Farbe Rot ausgerichtet. Sie hebt sich vor jedem Hintergrund ab, und es ist fast unmöglich, sie zu ignorieren. Sobald die Kappen abgesetzt sind, nur noch das dezente, im Licht glänzende Braun des Glases zurückbleibt, läuft er Gefahr, an den Fläschchen vorbeizulaufen, und nach erfolglosen Gängen stellt er sich die immer gleichen Fragen: Wie viele Fläschchen hat er übersehen? Hätte er die Straßenseite wechseln sollen? Wie oft hat er Vorder- und Hintergrund nicht voneinander unterscheiden können? Wie oft hat er nur das gesehen, was alle sehen? Nichts gefunden und nichts erfunden? Und welche Kappe müsste er selbst auf- oder absetzen, um unsichtbar zu werden?

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Der Mann trinkt die Tarnung, denkt er, er setzt sich die Kappe inwendig auf. Über einem Organ, vielleicht. Der Zirbeldrüse, wo René Descartes den Seelensitz verortet: Ein kleines, rotes Hütchen ohne Krempe. Fez. (Cf. A. Nin.) Oder dem Solarplexus, wo Michel Serres es tut: Sehr viel größer, als man annehmen würde, ein Sombrero. Er selbst würde, glaubte er an eine Seele, sie auf der Zunge verorten. Er hat das Bild einer gespaltenen Zunge im Kopf: Schlangenzunge mit zwei Enden. Im Mund wäre das Schmecken verdoppelt: Geschmack und Gegengeschmack, die sich nicht gegenseitig aufheben würden. Und auch das Sprechen wäre verdoppelt. Ein Sprechen, mit dem man sich an andere wendet, und ein Sprechen, mit dem man sich an sich selbst wendet. Nachts, im Vorbeiziehen fremden Schlafs. Manchmal würden die beiden Zungenenden sich zum Schweigen verknoten, zur zuverlässigsten der Tarnkappen. Im Sprechen dagegen müsste die Zunge eine Narrenkappe tragen mit je einer Schelle an den beiden Zungenenden.