Kontext, unspektakulär

15. 7. 2015 // // Kategorie Randnotizen 2015

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Oder eine Karte. Er hätte seine Funde von Beginn an auf einem Stadtplan markieren sollen. Rote Kappen auf einer grauen Karte. Schließt er die Augen, kann er sie deutlich sehen: ein dickes Knäuel Rot rund um den Bahnhof. Mutterschiff, denkt er, der Anfang vom Ende. Davon ausgehend Strahlen in alle fünf Himmelsrichtungen. Die Straßen, die Gürtel genannt werden und von Nord nach Süd ineinander übergehen, würden in ihrer Sternendichte eine Milchstraße ergeben. Zartere Strahlen nach Ost und West und in die fünfte, namenlose Richtung. Spärlicher die Markierung, je weiter sie sich vom Mutterschiff entfernen. Er stellt sich die Karte schön vor, aber er wüsste nicht, welches Attribut er ihr geben sollte. Astronomisch, vielleicht, eine Sternenkarte. (Aber: Menschen, die Sternen und Sternbildern Namen geben, sind ihm so suspekt, wie Menschen, die einen Hausberg haben.) Einsam, vielleicht, eine Jeder-für-sich-allein-Trinker-Karte. (Aber: Einsamkeit scheint in keiner Länderstatistik auf. Allenfalls, gebrochen, in den Selbstmordraten.) Politisch, vielleicht, eine Straßenreinigungspräferenzkarte. (Aber: Die liegt auf der Hand.) Soziologisch, vielleicht, eine Antonym-von-Gentrifizierung-s-Karte. (Aber: Er würde wohl nur die Soziologie seines Gehens kartieren.) Autobiografisch, also?, eine Psychogeografiekarte. (Denn: Sammeln als reflexives SICH-SAMMELN: Ich, wenn ich mich denn sammle, bin gleichsam vieles, bin geistig zerstreut und innerlich zerrissen. – Manfred Sommer, Sammeln. Ein philosophischer Versuch.) Situationistenkarte: détournement …

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Erst im wiederholten Betrachten der Fotografien wird ihm die Vielfalt der Straßen-, d.h. der Weltbelage bewusst. Sehr oft Grün. Gras und Wiese. (Klassische Bildkomposition: Komplementärkontrast zum Rot der Etiketten und Kappen. Und der goldene Schnitt, womöglich, ist die Sollbruchstelle, von der alles seinen Ausgang nimmt.) Pflasterungen aller Art. Sogar aus Holz. (Einzeln liegende Pflastersteine nimmt er mit nach Hause und verwendet sie als Buchstützen. Später einmal wird er sein Bett damit auslegen.) Schotter. (Er denkt: Schotter ist auch ein Synonym für Geld, aber er weiß nichts mit dem Gedanken anzufangen.) Rindenmulch. (Der Geruch, sobald er feucht wird, ist unangenehm: säuerlich, verfallend. Ein Geruch, denkt er, vor dem man sich in Acht nehmen sollte.) Beton und Asphalt. (Und wenn man sie abträgt, liegt darunter: Beton und Asphalt. Weh dem, der keine Symbole sieht!) Beton und Nischen. (Es ist, als wären die Nischen von Beginn an im Beton enthalten. Schon im Eintrocknen entstehen die ersten Risse. Witterungsbedingungen weiten sie aus: Schnee und Regen, Hitze und Frost. Bis sie endlich groß genug sind, um sich darin zu verkriechen.) Beton und sein Abbruch. (…) Beton und Beton. (Und die Milchstraße, denkt er, ist auch das Universum der Eidechsen. Zaun- und Mauer-. Sie sind kaum zu zählen. Während man ein Chamäleon sein müsste, um vor all den Hintergründen unsichtbar werden zu können. Bzw.: Die Zunge ausrollen. Die Zunge ausrollen können …)

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Indem er die Fläschchen fotografiert, indem er die Kappen aufhebt und fortträgt, zerstört er das Wechselspiel der Vorder- und Hintergründe. Jede Sammlung (das Sammeln als Tätigkeit) basiert auf Zerstörung des und Entfremdung aus dem ursprünglichen Kontext. Er verschiebt, denkt er, die Dinge aus ihrem in seinen Kontext. Er schafft, wie jeder Sammler, ein künstliches Biotop. Aus Projektionen und Identifikationen und Fiktionen. Er zerstört den vorgegebenen Rahmen (jeden Rahmen) und die sogenannte Vollzugswirklichkeit, um in der Doppelbewegung von De- und Rekontextualisierung an den Punkt zu gelangen, an dem es keine Referenz mehr gibt. Nur noch Fiktion (Sammeln = Fingieren) und einen Rest von Wirklichkeit, der ihm das Gehen (Gehen = Verwirklichen) ermöglicht. – Z. B. die Frau: Er zerpflückt sie und nimmt sie Stück für entfremdetes Stück mit sich. Ihr Gesicht, das bis an den Rand voll ist mit … Gesicht. Ihr Haar, es ist blond, und er wird es schwarz sein lassen, wie das des Mannes neben ihr. Die Kleidung wird er ihr erlauben, so wie sie ist. Die dunkelblaue Sporttasche, die neben ihr auf der Bank steht, wird er aus dem Bild räumen, ihr stattdessen einen Flachbildfernseher zur Seite stellen, der – ohne Strom – schwarz bleiben wird. Das Fläschchen, das sie ausgetrunken hat und auf das sie gerade die rote Kappe schraubt, wird er in den Mittelpunkt des Sammlungsbildes rücken, weil es nur eine Randerscheinung ist. Am Globus.